Es ist niemand da, der mit mir redet: So einsam lebt es sich in Gera

Es ist niemand da, der mit mir redet: So einsam lebt es sich in Gera

Artikel der Ostthüringer Zeitung vom 18.06.2024

Gera. Scham, Stolz, Gewohnheiten lassen Menschen einsam werden, doch das ist es nicht allein. Diese Frauen wissen, hinter welchen Türen einsame Seelen leben und warum.

Aus Scham, aber auch aus Stolz rutschen Menschen in die Isolation. Bis zur Vereinsamung ist es dann oft nicht mehr weit. „Es gibt Menschen, die trauen sich zum Beispiel nicht in Begegnungsstätten zu gehen, obwohl sie dort Anschluss finden würden. Manche trauen sich überhaupt nicht allein raus. Andere hingegen sagen sich, dass sie niemanden brauchen. Mit Sicherheit ist das auch eine Schutzreaktion. Klar, es gibt Menschen, die gern allein sind. Aber allein zu sein bedeutet nicht, sich einsam zu fühlen“, beschreibt Ines Borowsky ihre Erfahrung als Agathe-Beraterin. Das ist sie seit fast zwei Jahren.
Ines Borowsky durchbricht die Einsamkeit. Sie weiß, hinter welchen Türen einsame Menschen leben und öffnet sie. „Es gehört zu unseren Aufgaben, jene Menschen aufzusuchen, die allein leben. Wir zwingen uns natürlich nicht auf. Wir begleiten, unterstützen und reichen ihnen die Hand“, erklärt sie. Einsamkeit ist ein Tabuthema. „Wer gesteht schon sich oder seinem Umfeld ein, dass man keine Freunde hat, dass die eigene Familie nicht mehr zu Besuch kommt oder dass man Angst hat, Kontakte zu knüpfen.“

Wie einsame Menschen den Weg in die Gemeinschaft wieder finden
Doch, wie kommen einsame Menschen zu Ines Borowsky? „Nun, dafür gibt es mehrere Wege. Entweder sie werden aktiv und melden sich bei uns an oder das Netzwerk greift ein. Zum Beispiel ruft uns das Krankenhausentlassungsmanagement an und rät uns, die betreffende Person zu kontaktieren. Aber auch Wohnungsunternehmen geben uns Tipps, hinter welchen Türen einsame Seelen auf Gesellschaft warten.“ Das Leben zeichnet die Wege, in Form von seelischen als auch körperlichen Rissen, Falten und Abschürfungen. Regelmäßig besucht Ines Borowsky einen älteren Mann, er ist 67 Jahre alt. Er kam erst vor ein paar Jahren nach Gera, lernte hier eine Frau kennen. Andere enge Freundschaften sind nicht entstanden. Vor einigen Jahren ist seine Frau gestorben, seitdem sind die Postfrau und der Paketbote seine Gesprächspartner. „Erfreulicherweise hat er von unserem Projekt gehört und ist auf uns zugekommen“, so Ines Borowsky. Hinter einer anderen Tür in einem anonymen Wohnblock lebt eine einsame Frau, sie ist weit über 80 Jahre alt. Keine Familie, keine Kinder, keinen Mann. Einst war sie verheiratet, doch diese Ehe hinterließ tiefe Spuren und Narben. „Diese Frau kam nicht aktiv auf uns zu. Hier sind wir dankbar, dass uns der Vermieter einen Tipp gegeben hat.“
Herzens-Post für einsame Seelen feiert Premiere
Neben den regelmäßigen Seniorencafés, die in Geras Stadtteilen Bieblach, Lusan und Untermhaus, zum Kennenlernen stattfinden, gibt es nun die limitierte Briefkartenaktion – initiiert vom städtischen Internat. „Durch den regelmäßigen Austausch im Quartier weiß ich, dass das Thema Vereinsamung von Menschen insbesondere hier in Bieblach sehr akut ist. Da war die Idee schnell geboren, unsere Internatsnutzer zur Teilnahme zu motivieren,“ beschreibt Marion Opelt, Leiterin des Internats, das Projekt. In Gera feiert dieses Projekt Premiere, bundesweit lehnen sich die Geraer Macher an die bestehende Aktion Post mit Herz an. Eine vorerst kleine Auswahl an individuell gestalteten Briefen ist entstanden, die in dieser Woche durch Ines Borowsky und dem gesamten Agathe-Team persönlich an ausgewählte Senioren übergeben werden. „Wir wissen, wer sich am meisten darüber freuen würde und bestenfalls sogar antwortet. Vielleicht entsteht auch die eine oder andere Brieffreundschaft. Wünschenswert wäre es“, sagt sie.

Foto: Steffi Hardell-Illgen (l.) und Ines Borowsky gehören zum Agathe-Team. Angedockt am städtischen
Gesundheitsamt wird Agathe vom Freistaat gefördert.
© Funkemedien Thüringen | Fanny Zölsmann

Steffi Hardell-Illgen (l.) und Ines Borowsky gehören zum Agathe-Team. Angedockt am städtischen Gesundheitsamt wird Agathe vom Freistaat gefördert.
© Funkemedien Thüringen | Fanny Zölsmann